Moving Cities
Über die Stadt

Halle (Saale)

Erfolgreiche antirassistische Arbeit trotz politischen Drucks.

Wichtigste Erkenntnisse

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    In Halle organisierten sich zivilgesellschaftliche antirassistische Projekte unter schwierigsten Bedingungen, denn die Zahl der rassistischen Gewalttaten in Sachsen-Anhalt ist alarmierend.

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    Die Stadt ist ein gutes Beispiel dafür, wie zivilgesellschaftliche Willkommensstrukturen, die während des ‘Sommers der Migration’ 2015 entstanden, auch weiterhin wichtige Akteur:innen blieben. Die Initiativen leisten bis heute nachhaltige Solidaritätsarbeit vor Ort.

Was ist das Besondere an der Stadt?

Anhaltender antirassistischer Aktivismus: Trotz der erschwerten Umstände und des hohen Drucks von rechts setzt sich die lokale antirassistische Szene seit mehr als zwei Jahrzehnten auf kommunaler und auf Landesebene für die Verbesserung der Lebenssituation von Geflüchteten ein. Das Netzwerk von Willkommensinitiativen verzeichnete nicht nur lokale Erfolge, sondern sorgte auch dafür, dass die Stadt von der Landesregierung Verbesserungen einforderte. Halle beschloss innovative Maßnahmen, die den Zugang zu individuellem Wohnraum für geflüchtete Menschen verbesserten.

Wo liegt der Schwerpunkt der lokalen Migrationspolitik?

Nachhaltige lokale Solidaritätsarbeit: Lokale Bewegungen positionierten sich gegen die menschenverachtende Migrationspolitik und errichteten alternative lokale Strukturen, als die Kommunen nicht selbst handelten. Die Proteste gegen die Abschiebung vom Flughafen Leipzig-Halle und die Abschaffung des bevormundenden Gutscheinsystems für Geflüchtete sowie ein von Bürger:innen geführtes Willkommenszentrum sind markante Beispiele für die breit aufgestellte und durchsetzungsstarke zivilgesellschaftliche Arbeit.

Was sind die größten Erfolge?

Ein Begegnungscafé für Neubürger:innen und Alteingesessene: Die Aufrechterhaltung der ‘Willkommenskultur’ von 2015 in einem vergleichsweise feindlichen Umfeld ist ein beeindruckendes Resultat der kontinuierlichen aktivistischen Bemühungen in Halle. Unter den zahlreichen Projekten sticht besonders das ‘Welcome Treff’ hervor: Als die Verwaltung Halle’s sich weigerte, ein vom Stadtrat vorgeschlagenes Integrationszentrum zu eröffnen, sprang eine Bürgerinitiative ein und gründete ein Begegnungscafé für Geflüchtete und Einheimische. Der mittlerweile sehr beliebte Treffpunkt bietet verschiedenste Formen der Unterstützung an: Hilfe beim Deutsch Lernen und Sprechen, beim Ausfüllen von Formularen für Behörden sowie bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz.

Politische Arbeit über die lokale Ebene hinaus

Schon Monate vor dem Entstehen der Seebrücke-Bewegung im Sommer 2018 schlossen sich in Halle Aktivist:innengruppen, Institutionen, Einzelpersonen und Mitarbeiter:innen der Stadtverwaltung zu einer Initiative zusammen. Dank ihres unermüdlichen Engagements beschloss der Stadtrat, dass Halle dem Bündnis 'Städte Sicherer Häfen’ beitreten und die ‘Potsdamer Erklärung’ unterzeichnen solle.

Mitglied folgender Netzwerke

Kompletten Stadtreport herunterladen

Der Stadtreport enthält weitere Informationen über die Migrations- und Integrationspolitik der Stadt sowie ausgewählte lokale Ansätze. Report aus dem Jahr 2021, aktualisiert im Jahr 2023.

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Politischer Kontext - Deutschland

Politische Organisation

Die Zuständigkeit für Einbürgerung, Zuwanderung und die Aufnahme von Geflüchteten liegt grundsätzlich bei der Bundesregierung. Das ‘Bundesamt für Migration und Flüchtlinge’ (BAMF) gehört zum Innenministerium und bearbeitet die Asylanträge. Die Botschaften dagegen, die dem Auswärtigen Amt unterstehen, entscheiden über Einwanderungsanträge für die Arbeit, das Studium oder die Familienzusammenführung. In der Asylpolitik sind die einzelnen Bundesländer dazu verpflichtet, Bundesgesetze, wie das Asylbewerberleistungsgesetz, umzusetzen. Dabei haben sie jedoch einen gewissen Handlungsspielraum, was zu einer sehr unterschiedlichen Behandlung von Geflüchteten in den 16 Bundesländern führen kann. Die Länder können z.B. über Härtefallkommissionen humanitäre Aufenthaltsgenehmigungen erteilen, befristete Abschiebestopps beschließen oder sogar ganzen Gruppen eine Bleibeperspektive verschaffen. Die Bundesländer übergeben die Einzelfallentscheidungen in der Regel den örtlichen ‘Ausländerbehörden’ und die haben ihrerseits einen großen Spielraum, wenn es darum geht, ‘Abschiebehindernisse’ zu beurteilen oder Aufenthalte zu genehmigen oder zu verlängern.

Historischer Hintergrund

Die Vorstellung, Deutschland sei ‘kein Einwanderungsland’, prägte den politischen Diskurs nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang, allerdings kollidierte dieses Selbstbild zunehmend mit der Realität: Bereits in den späten 1950er Jahren holte die Bundesregierung sogenannte ‘Gastarbeiter:innen’ aus Südeuropa nach Deutschland, um den Arbeitskräftemangel in den boomenden Industrien zu decken. Auch nach dem ‘Anwerbestopp’ 1973 blieben Millionen dieser Arbeitskräfte - entgegen der politischen Pläne - im Land, erhielten aber praktisch keine Integrationshilfe. Auch heute prägen sie die deutsche Gesellschaft, sind aber zugleich von Diskriminierungen betroffen, etwa beim Wahlrecht oder auf dem Arbeitsmarkt. Als nach dem Zusammenbruch des Ostblocks die Zahl der Asylbewerber:innen aus Osteuropa sprunghaft anstieg, beschloss der Bundestag 1992 weitreichende Einschränkungen des Asylrechts, was in Teilen Deutschlands eine Pogromstimmung schürte.

Die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre

Der ‘Sommer der Migration’ 2015 markierte in mehrfacher Hinsicht einen Wendepunkt: Unter dem Druck der Fluchtbewegung ließ Deutschland die Ankunft von rund einer Million geflüchteter Menschen zu. Das enorme zivilgesellschaftliche Engagement im Aufnahmeprozess, das unter dem Schlagwort ‘Willkommenskultur’ bekannt wurde, ermöglichte es vielen geflüchteten Menschen, schneller als früheren Generationen, sozialen und wirtschaftlichen Anschluss zu finden. Die Politik etablierte eine Integrationsinfrastruktur mit umfangreichen Ressourcen, um Geflüchtete beim Spracherwerb, bei der Bildung und beim Einstieg in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Aber bereits 2016 schlug die Stimmung um, Politiker:innen beteuerten nun vor allem, dass sich ‘2015’ nicht wiederholen dürfe, und zahlreiche Gesetze verschärften seitdem die Asylpolitik. Am umstrittensten war der Versuch, eine mit dem Grundgesetz unvereinbare Obergrenze für die Aufnahme neuer Geflüchteter pro Jahr festzulegen. 2018 beschloss die Regierungskoalition aus CDU und SPD stattdessen einen unverbindlichen ‘Korridor’ von 180.000 bis 220.000 Aufnahmen pro Jahr. Allerdings hat Deutschland aufgrund der weitgehend geschlossenen EU-Außengrenzen in den letzten Jahren deutlich weniger Personen aufgenommen. Die deutsche Wirtschaft leidet parallel dazu seit fast einem Jahrzehnt unter einem Arbeitskräftemangel, der durch eine niedrige Geburtenrate und ein starkes Wirtschaftswachstum noch verschärft wird. Das Fachkräftezuwanderungsgesetz von 2020 gestattet daher in sehr begrenztem Maße die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Ländern außerhalb der EU.

Was haben progressive Kampagnen erreicht?

Dank des Einsatzes von Migrant:innenorganisationen reformierte die damalige rot-grüne Regierung im Jahr 2000 das bestehende Staatsangehörigkeitsrecht: Ein in Deutschland geborenes Kind ausländischer Eltern erhält seitdem unter bestimmten Voraussetzungen automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit – zusätzlich zur Staatsangehörigkeit seiner Eltern. Rund zehn Jahre später erkämpften Geflüchtetenorganisationen mittels jahrelanger Kampagnen eine deutliche Verbesserung des Asylrechts in Form partieller Aufhebungen und Lockerungen des ‘Asylkompromisses’ von 1993. Zu den schikanösen und entmündigenden Bestimmungen des ‘Asylkompromisses’ zählten die Verteilung von ‘Sachleistungen’ (z. B. Lebensmittelpakete) anstelle von Bargeld in Asylunterkünften und das Arbeitsverbot. Allerdings wurden einige dieser Verbesserungen 2016 wieder rückgängig gemacht. Ein weiterer progressiver Kampagnenerfolg war der Kurswechsel der deutschen Regierung hinsichtlich der europäischen Dublin-Verordnung, die Staaten an den europäischen Außengrenzen stark belastet. Während Deutschland lange Zeit zu den größten Befürwortern der Verordnung zählte, setzt sich die Bundesregierung seit 2014 für einen europäischen Verteilungsschlüssel ein. Auf zivilgesellschaftlicher Ebene haben sich zudem zahlreiche Initiativen gebildet: von lokalen Aufnahmebündnissen bis hin zu großen Seenotrettungs-NGOs.