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Über die Stadt

Lewisham (London)

Gegen diskriminierende Behörden vorgehen.

Wichtigste Erkenntnisse

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    Der Gemeinderat erweiterte die Bedeutung des Begriffs ‘sanctuary’ (Zuflucht) im Vereinigten Königreich: Er befasst sich seitdem mit Themen, die alle Migrant:innen betreffen – nicht nur Asylbewerber:innen und Geflüchtete.

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    Migrant:innen beteiligten sich an der Gestaltung des ‘sanctuary borough’ (Zufluchtsbezirk – siehe Netzwerke ‘City of Sanctuary’). Sie eroberten sich so politische Gestaltungsmöglichkeiten zurück und wurden als Expert:innen auf dem Feld der Migrationspolitik anerkannt.

Was ist das Besondere an Lewisham?

Zusammenarbeit mit Anwohner:innen und Organisationen: Lewisham verpflichtete sich 2018 als erste lokale Behörde in London ein ‘Borough of Sanctuary’ zu werden und kooperiert seitdem eng mit der Zivilgesellschaft. Durch die direkte Zusammenarbeit mit Menschen die von der nationalen ‘Hostile Environment’ Politik (‘Feindliches Umfeld’ – siehe Länderprofil UK ) betroffen sind, konnte der Stadtrat in relativ kurzer Zeit Probleme angehen, die seit langer Zeit bestehen und dabei die Interessen aller Migrant:innen einbeziehen. Lewisham zeigt wie lokale Behörden auf Probleme reagieren können, die von migrantischen Communities selbst identifiziert wurden.

Wo liegt der Schwerpunkt der lokalen Migrationspolitik? Was sind die Schlüsselfaktoren?

Widerstand gegen die nationale Politik des ‘Hostile Environment’: In Lewisham reagierte die Stadtverwaltung auf Aktivismus, Kampagnen und Forderungen der Anwohner:innen. Infolgedessen schwächte sie die nationale ‘Hostile Environment’ Politik ab und verbesserte mit vielen kleineren Maßnahmen die Lebensbedingungen von Migrant:innen. Der Ansatz ist deshalb progressiv, weil Migrant:innen sich direkt an der Gestaltung des ‘Sanctuary Borough’ beteiligten und somit die lokale Politik ihrem Sinne beeinflussen konnten.

Was sind die größten Erfolge?

Eine Veränderung der lokalen Sozialhilfeteams (NRPF): Bis vor kurzem hielt der Stadtrat von Lewisham Migran:innenfamilien mit ‘No Recourse to Public Funds’ (‘Kein Zugriff auf öffentliche Mittel’ - NRPF) aggressiv davon ab, ihre Rechte auf Betreuung, Unterkunft und finanzielle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Letztlich reagierte der Rat auf die Kampagne einer Gruppe von Eltern mit Migrationshintergrund. Sie führten eine unabhängige Überprüfung des NRPF-Teams durch und bieten nun kostenlose Rechtsberatung an für Migrant:innen die keine Aufenthaltsgenehmigung besitzen oder von NRPF betroffen sind. Zudem schulten Migrant:innen den Rat zu Fragen der Fallbeurteilung und wurden somit aufgrund ihrer konkreten Lebenserfahrung als Expert:innen im Feld der Migrationspolitik anerkannt.

Politische Arbeit über die lokale Ebene hinaus

Lewisham trug zu einem umfassenderen Verständnis des Begriffs der ‘Zuflucht’ bei, der auch die Rechte von Migrant:innen einschließen sollte. Diese Erweiterung stellt einen entscheidenden Beitrag zur nationalen ‘Sanctuary’-Debatte dar, die sich derzeit nur auf Asylsuchende und Geflüchtete konzentriert. Der Ansatz von Lewisham wird der sozialen Komplexität von Großstädten gerecht, wo Migranten:innen in unterschiedlichsten prekären Einwanderungsverhältnissen leben.

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Der Stadtreport enthält weitere Informationen über die Migrations- und Integrationspolitik der Stadt sowie ausgewählte lokale Ansätze. Report aus dem Jahr 2021, aktualisiert im Jahr 2023.

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Politischer Kontext - Vereinigtes Königreich

Wie ist die Migrationspolitik im Vereinigten Königreich organisiert?

Die Migrationspolitik gestaltet sich im Vereinigten Königreich verhältnismäßig komplex, da sie über einen langen Zeitraum entwickelt wurde und mehrere Verwaltungsebenen umfasst. Während die Migrationspolitik zentralisiert organisiert ist, wird die Inklusionspolitik dezentral durchgeführt: Seit dem Localism Act von 2011 legen die lokalen Behörden sowie die dezentralen Verwaltungen in Wales und Schottland die Richtlinien der Inklusion fest. Dagegen ist die Zentralregierung unter der Verantwortung des Innenministers für die Einwanderung zuständig.

Was ist der historische Hintergrund?

Die Migrationspolitik des Vereinigten Königreichs ist auch deshalb so komplex, weil sie in der Vergangenheit als Reaktion auf verschiedene rassistisch motivierte Migrationsbewegungen entwickelt wurde. Der Aliens Act von 1905 empfing Jüd:innen, die vor Pogromen in Russland und Osteuropa flohen. Dagegen konzentrierten sich die Gesetzgebungen der 1960er bis 1970er Jahren darauf, die Beschränkungen für die ‘neue’ Commonwealth-Einwanderung (d.h. nicht-weiße Einwanderung) aus den ehemaligen britischen Kolonien zu verschärfen.

Seit den späten 1980er Jahren zielte die britische Einwanderungspolitik zunehmend auf die Beschränkung der ‘irregulären’ Einwanderung und auf die Verschärfung der Bedingungen für Asylanträge. Die rassistische Einwanderungs- und Asylpolitik der Konservativen setzte sich unter der ‘New Labour’ in den 1990er Jahren fort: Das Einwanderungs- und Asylgesetz von 1999 führte ein Verteilungssystem ein, das die Aufnahme von Asylbewerber:innen auf der Grundlage von ‘Aufnahmezonen’ organisierte. Das Gesetz ersetzte außerdem die Sozialhilfeleistungen durch den zentral organisierten National Asylum Support Service (NASS). Zu einer weit verbreiteten Verarmung von Migrant:innen und Asylbewerber:innen trug das Prinzip ‘no recourse to public funds’ (NRPF) bei, das Personen mit befristetem Aufenthaltstitel betraf. Die restriktive Politik der Labour-Partei setzte sich auch in den 2000er Jahren fort.

Was sind die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre?

‘Hostile Environment’

Als die Konservativen 2010 erneut an die Macht kamen, war die Migrationspolitik im Vereinigten Königreich bereits extrem eingeschränkt. In das Land zu reisen, dort zu arbeiten oder einen Wohnsitz anzumelden, war mit großen rechtlichen Hürden verbunden. Der Rahmen war also bereits abgesteckt, als die damalige Innenministerin Theresa May 2012 erklärte: „Wir werden illegalen Einwanderern einen wirklich feindseligen Empfang bereiten.“ Diese Aussage fällt unter die Politik des ‘hostile Environment’. Diese migrationsfeindliche Haltung manifestiert sich in einer Reihe von Strafmaßnahmen. Sie zielen auf Migrant:innen ab, die sich vermeintlich nicht „an die Regeln halten“.

Das Einwanderungsgesetz von 2014 führte Vorschriften ein, die sogenannte „Scheinehen“ oder „Scheinlebenspartnerschaften“ verhindern und den Zugang zu wichtigen Dienstleistungen erschwerten. Auch belegt das Gesetz Vermieter:innen von Personen ohne Aufenthaltserlaubnis mit neuen Strafen, was Migrant:innen die Wohnungssuche zusätzlich erschwerte. Das nationalen Gesundheitsdienst führte ebenso neue Kontrollen ein und erhob Gebühren für Personen ohne Zugangsberechtigung. ‘Disqualifizierten Personen’ war es zudem untersagt, ein Bankkonto zu eröffnen, und der Führerschein konnte aufgrund des Einwanderungsstatus entzogen werden.

Das Einwanderungsgesetz von 2016 weitet die Strafen für ‘Schwarzarbeit’ aus und verhinderte den Zugang zu Mietwohnungen, Bankdienstleistungen und Führerscheinen. Außerdem erhielten die Einwanderungsbeamten die Befugnis, zivilrechtliche Sanktionen gegen alle Personen zu verhängen, die an einem als rechtswidrig erachteten Verhalten beteiligt waren. Durch die Politik des ‘hostile Environment’ konnten Personen ohne Bleiberecht daher nicht mehr nur von den Behörden, sondern von allen Bürger:innen überprüft und kontrolliert werden.

Im Sommer 2013 startete das Innenministerium ein umstrittenes Projekt mit dem Codenamen ‘Operation Vaken’. Auf Werbetafeln in sechs Londoner Stadtbezirken verwiesen die Behörden auf das Risiko, dass ‘irreguläre’ Geflüchtete verhaftet werden könnten. Die Tafeln warben mit einer Kontaktnummer für Migrant:innen, die sich entschlossen „nach Hause zu gehen“ um nicht „verhaftet zu werden“. Die Operation wurde von lokalen Gruppen heftig kritisiert, da sie „Spannungen in der Gemeinschaft“ schürten. All diese Entwicklungen gingen mit einer drastischen Sparpolitik einher: Die Haushaltskürzungen der Ausgaben für Sozialleistungen und wichtige öffentliche Dienste führten dazu, dass schutzbedürftige Gemeinschaften und lokale Behörden stark unter Druck gerieten. Die Referendumskampagne für den Austritt aus der EU konzentrierte sich auf rassistisch motivierte und migrationsfeindliche Botschaften, und führte damit letztlich knapp zum ‘Brexit’ aus der EU.

Was haben progressive Kampagnen erreicht?

Wohlfahrtsverbände und Kampagnengruppen übten auch im Vereinigten Königreich erfolgreich politischen Druck aus: So bot das ab 2014 Geflüchteten aus dem Nahen Osten und Nordafrika Schutz. Das VPRS wurde im September 2015 erweitert, um die Neuansiedlung von 20.000 der ‘schutzbedürftigsten’ syrischen Geflüchteten bis 2020 zu ermöglichen. Im Jahr 2016 erließ die Regierung außerdem das ‘Vulnerable Children Resettlement Scheme’ (VRS) für Kinder aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Das Dubs-Programm für die Inklusion unbegleiteter Flüchtlingskinder aus anderen EU-Staaten folgte 2016 nach einer langanhaltenden Kampagne der Zivilgesellschaft.

Da die Regierung sich nur begrenzt für die genannten Programme engagierte, folgte scharfe Kritik. Die Politik des Vereinigten Königreichs ist nach wie vor ausgesprochen feindselig, vor allem Menschen gegenüber, die auf nicht genehmigten Routen einreisen. Im Jahr 2020 kam es zu einer Reihe von Todesfällen im Ärmelkanal. In unsicheren Schlauchbooten flohen viele Menschen aus Frankreich, das Kontrollen zuvor verschärft hatte. In der Folge wurden mehrere Menschen, die die Schiffe gesteuerte hatten, wegen Schmuggels angeklagt.

Doch nicht nur Neuankömmlinge oder auf unerlaubten Wegen eingereiste Menschen, trugen die Last der ‘Hostile Environment’-Politik des Vereinigten Königreichs: Die im März 2020 veröffentlichte Untersuchung des ‘Windrush-Skandals’ dokumentiert, wie Hunderte von Commonwealth-Bürger:innen aufgrund der „zutiefst fehlerhaften und diskriminierenden“ Einwanderungspolitik zu Unrecht inhaftiert, deportiert und ihrer Rechte beraubt worden waren. Auch dieses Beispiel zeugt von der historisch tief verwurzelten feindseligen und rassistischen Politik des Vereinigten Königreichs.