Marseille
Die Wiederentdeckung mediterraner Gastfreundschaft.
Wichtigste Erkenntnisse
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Nach Jahrzehnten konservativer Stadtregierung kam 2020 eine linke Koalition an die Macht. Die städtischen Behörden und die Zivilgesellschaft rückten in der Folge näher zusammen.
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Die Stadt bekannte sich zu einer Politik der sicheren Häfen. Die Behörden nahmen dabei auf die Geschichte Marseilles als Hauptstadt des Mittelmeers Bezug: „Wenn jemand ertrinkt, fragen wir nicht nach Papieren, wir holen sie aus dem Wasser.”
Was ist das Besondere an Marseille?
Nach Jahren der Stagnation öffnet sich der Hafen: Als historische Hafenstadt im Mittelmeerraum blickt Marseille auf eine lange Geschichte der Zuwanderung zurück. Die lokalen Regierungen setzten sich in den letzten Jahrzehnten allerdings kaum für eine inklusive Migrationspolitik ein. Stattdessen halfen zahlreiche Bürgerinitiativen Neuankömmlingen bei der Wohnungssuche, boten grundlegende Unterstützung an und entwarfen Kampagnen für die Rechte der Migrant:innen. Mit der Wahl von Bürgermeisterin Rubirola, der Vorsitzenden einer Linkskoalition unter Führung von Europe Ecology (Grüne Partei) im Jahr 2020, änderte sich die Kommunalpolitik: Marseille entwickelte sich zu einer solidarischen Stadt, die ihren Hafen öffnete und sich in internationalen Städtenetzwerken engagiert.
Was sind die Schlüsselfaktoren?
Langjähriger Aktivismus trifft auf neue Verwaltung: Die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Behörden und Zivilgesellschaft ist in Marseille noch recht jung, obwohl Bürgerinitiativen und NGOs schon seit langem Angebote für Neuankömmlinge bereitstellen. Das Jahr 2020 markierte eine Zäsur in der Kommunalpolitik: Die neue Stadtverwaltung versprach, die Migrations- und Inklusionspolitik umzugestalten. Die lokalen Medien bezeichneten diesen Richtungswechsel als „Marseiller Frühling”.
Was sind die größten Erfolge?
Städtische Beamte fordern bedingungslose Aufnahme: Die markantesten von der neuen Stadtregierung herbeigeführten Veränderungen sind das Engagement für eine Politik der sicheren Häfen sowie die öffentlichen Interventionen der Bürgermeisterin, die für eine bedingungslose Aufnahme von Geflüchteten plädiert. Außerdem ermöglichte das verbesserte Verhältnis von Stadt und Zivilgesellschaft die stärkere Beteiligung an nationalen und internationalen Initiativen für solidarische Städte.
Politische Arbeit über die lokale Ebene hinaus
Marseille unterstreicht national und international seine Position als Willkommensstadt. Durch ihren Beitritt zur ANVITA (‘Association Nationale des Villes et Territoires Accueillants - Nationale Vereinigung gastfreundlicher Städte und Gebiete’) und zum ‘Solidarity Community Network zur Unterstützung der SOS Méditerranée’ vernetzte sich die Stadt weiter und trat im Juni 2021 auch dem Bündnis ‘Internationalen Allianz der sicheren Häfen’ bei.
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Kompletten Stadtreport herunterladen
Der Stadtreport enthält weitere Informationen über die Migrations- und Integrationspolitik der Stadt sowie ausgewählte lokale Ansätze. Report aus dem Jahr 2021, aktualisiert im Jahr 2023.
Politischer Kontext - Frankreich
Wie ist die Migrationspolitik in Frankreich organisiert?
Die französische Migrationspolitik wird zentral koordiniert, insbesondere durch die ‘Generaldirektion für Ausländer:innen in Frankreich’ (DGEF) , die mit dem Innenministerium in den Bereichen Einwanderung, Asyl, Inklusion und Staatsangehörigkeitsrecht zusammenarbeitet. Trotz zentraler Regelungen hat sich seit 2015 als Reaktion auf die sogenannte ‘Migrationskrise’ die Zusammenarbeit mit den lokalen Gebietskörperschaften verstärkt.
Was ist der historische Hintergrund?
Die französische Migrationspolitik ist historisch durch die eigene koloniale Vergangenheit beeinflusst. Ein Gesetz aus dem Jahr 1899 sicherte allen in Frankreich geborenen volljährigen Ausländern die französische Staatsbürgerschaft zu. Das Gesetz wurde 1993 aufgehoben, so dass die Staatsangehörigkeit nicht mehr automatisch gilt. Die 1945 eingeführte Aufenthaltskarte erleichterte ab den 1950er Jahren die Familienzusammenführung und die ‘Integrationswege’. Eine Politik für die Wirtschaftsmigration wurde 1956 entwickelt und richtete sich insbesondere an ausländische Arbeitnehmer:innen und ihren Zugang zu Wohnraum. Zwischen 1981 und 1985 erlaubte die Regierung unter Mitterand die Legalisierung von 130.000 ‘irregulären’ Ausländer:innen und lockerte damit einige frühere Maßnahmen. Die ‘Ostergesetze’ Mitte der 1980er Jahre schränkten jedoch die Zugangsbedingungen erneut ein und begünstigten die Ausweisung von Ausländer:innen. Premierminister Rocard erklärte im Jahr 1990: „[...] ich denke, dass wir nicht alles Elend der Welt beherbergen können, dass Frankreich das bleiben muss, was es ist, ein Land des politischen Asyls [...], aber mehr nicht.“ Die französische Politik hat sich seit den 2000er Jahren an der europäischen Politik orientiert und die Zugangsbedingungen für die Zuwanderung eingeschränkt.
Das französische Asylrecht - ein zentraler Wert der Verfassungen von 1946 und 1958 - wurde sukzessive an das europäische Asylpaket von 2009 angepasst.
Laut INSEE lebten im Jahr 2018 6,5 Millionen Einwander:innen in Frankreich, während die Zahl französischer Menschen ‘ausländischer Herkunft’ 7,7 Millionen betrug.
Die Zahl der Asylbewerber:innen in Frankreich ist von 2008 bis 2019 stetig gestiegen, mit einem Rückgang im Jahr 2020. Im Jahr 2019 wurden 132.614 Anträge (einschließlich unbegleiteter Minderjähriger und Wiederholungsanträge) bei dem ‘Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides’ (Französisches Amt für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen’ - OFPRA) eingereicht (+7,3 % im Vergleich zu 2018) , Schutz erhielten 36.512 Personen (gegenüber 33.330 im Jahr 2018; + 9,5 %).
Was sind die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre?
Bereits während des Arabischen Frühlings 2011 setzte Frankreich das Schengen-Abkommen aus und führte die Grenzkontrollen zu Italien wieder ein. Im Laufer der ‘Migrationskrise’ 2015 baute Frankreich den ‘Dschungel von Calais’ ab und richtete ‘Aufnahme- und Orientierungszentren’ (CAO) ein, in denen etwa 12.000 Plätze für ankommende Migrant:innen zur Verfügung stehen. Der Staat besitzt oder mietet diese Einrichtungen, um Migrant:innen vorübergehend für maximal drei Monaten aufzunehmen und sie „zum Nachdenken über ihr Migrationsprojekt an[zu]regen“. Nach den Terroranschlägen in Paris führte die Regierung Hollandes im Jahr 2015 erneut Grenzkontrollen ein.
Im Einklang mit dem europäischen Vorgehen gab es in den letzten fünf Jahren eine Reihe bedeutender Entwicklungen in der französischen Migrations- und Asylpolitik. Erstens wurden Grenzkontrollen verschärft und Dienststellen zur Prüfung von Asylanträgen außerhalb des französischen Hoheitsgebiets eingerichtet. Dabei kam es zweitens zu dokumentierten Zurückweisungen unbegleiteter Minderjähriger und zu wiederholten, wenn nicht sogar systematischen Verletzungen der Grundrechte, einschließlich faktischer Inhaftierungen. Drittens fehlen vielen Asylbewerber:innen Unterkünfte, gleichzeitig werden die Lager in großen Städten oder im Norden Frankreichs (z. B. Calais, Grande Synthe) regelmäßig aufgelöst. Zudem sind die Aufnahmekapazitäten begrenzt: Nur etwa 51 % der Asylbewerber:innen, die Anspruch auf materielle Aufnahmebedingungen haben, werden tatsächlich untergebracht. Darüber hinaus verlassen viele Personen mit Asylstatus die Aufnahmezentren, ohne eine Unterkunft zu finden. In der ersten Hälfte des Jahres 2020 hatten gerade einmal 1.755 Personen im Anschluss an das Aufnahmesystem eine Wohnung, viele werden demnach später obdachlos oder leben in informellen Siedlungen.
Was haben progressive Kampagnen erreicht?
In einem Schreiben vom September 2015 lud Innenminister Cazeneuve die Bürgermeister*innen zu einem Treffen ein, um „die Vorschläge zur Aufnahme unter den besten Bedingungen umzusetzen“, und leitete damit den Prozess der Dezentralisierung der Aufnahme ein.
Auf nationaler Ebene
Der am 18. Dezember 2020 veröffentlichte ‘nationale Plan für die Aufnahme von Asylbewerbern und die Integration von Flüchtlingen für 2021-2023’ sieht die Möglichkeit vor, die Aufnahmepolitik an neue Migrationskontexte und an regionale Besonderheiten anzupassen, einschließlich einer besseren Verteilung der Asylbewerber:innen auf das gesamte Staatsgebiet. Kooperationsnetzwerke auf der Ebene der Zivilgesellschaft wenden sich gegen die staatliche Politik der Nichtaufnahme und wollen stattdessen alternative Vorschläge im Dialog mit den Kommunen entwickeln. 2018 starteten die ‘Generalstände für Migration’: „Die Generalstände für Migration sind ein Projekt, an dem neben Ausländer:innen hunderte von Kollektiven und lokalen oder nationalen Vereinigungen vor Ort aktiv sind. Die Akteure arbeiten in ganz Frankreich zusammen und organisieren öffentliche Veranstaltungen, um die aktuelle Politik anzuprangern und radikale Änderungen in der Migrationspolitik vorzuschlagen.“
Die ‘Sans Papiers’ (Menschen ohne Papiere) richteten zahlreiche Märsche aus, von denen der Marsch zum Elysée-Palast im Oktober 2020 den Höhepunkt ihrer Aktionen darstellt.
Auf der Ebene der lokalen Behörden
Die 2018 von neun Gründungsstädten ins Leben gerufene ‘Association Nationale des Villes et Territoires Accueillants’ (ANVITA)) bringt Gebietskörperschaften, kommunale Gruppen und gewählte Vertreter:innen zusammen und verzeichnet mittlerweile fast 50 Mitglieder. Die Initiative setzt sich für eine bedingungslose Willkommenspolitik für ‘Exilant:innen’ und für die Gastfreundschaft auf französischem Staatsgebiet ein. Eine der Hauptforderungen ist der uneingeschränkte Zugang zu Dienstleistungen und die Gleichberechtigung aller Einwohner:innen.