Moving Cities
Über die Stadt

Gent

Umfassende Maßnahmen und außergewöhnliche Kooperationen.

Wichtigste Erkenntnisse

  • 1

    Die Zusammenarbeit zwischen Stadt und zivilgesellschaftlichen Organisationen in Fragen der Migrations- und Inklusionspolitik ist einzigartig in Belgien.

  • 2

    Die frühzeitige individuelle und langfristige Unterstützung der Migrant:innen folgt einem ganzheitlichen Ansatz.

Was ist das Besondere an der Stadt?

Von der Stadt unterstütztes bürgerschaftliches Engagement: Gent ist stolz auf seine aktive Zivilgesellschaft und würdigt ihre vielfältigen Initiativen. Die Stadt unterstützt zivilgesellschaftliche Projekte in hohem Maße, in manchen Fällen auch durch offizielle Zusammenarbeit. Die Kooperationen folgen einem integralen, individualisierten und sozial orientierten (und nicht nur ergebnisorientierten) Ansatz. Für seinen gemeinschaftliche Ausrichtung erhielt Gent bereits viele Auszeichnungen.

Verschiedenste Initiativen und Organisationen entstehen durch Graswurzelbewegungen. Die Stadt Gent würdigt und unterstützt Initiativen und Organisationen, ohne sie zu übernehmen.

Rudy Coddens, Stadtrat für Sozialpolitik und Finanzen

Wo liegt der Schwerpunkt der lokalen Migrationspolitik?

Proaktive Inklusion mit Solidarität verbinden: Das Genter Migrationsforum vernetzt Akteure aus dem Migrationsbereich mit dem Ziel, Asylbewerber:innen proaktiv miteinzubeziehen und gleichzeitig die Zivilgesellschaft zu involvieren. Diese Strategie fördert die Solidarität unter den Einwohner:innen der Stadt. Die wichtigsten Genter Initiativen konzentrieren sich auf die Aufnahme von Geflüchteten, die (ehrenamtliche) Arbeit und die soziale Inklusion.

Politische Arbeit über die lokale Ebene hinaus

Im Vertrauen auf die Wirksamkeit der lokalen Lösungsansätze setzten sich Lokalpolitiker:innen und Bürger:innen auch auf nationaler Ebene für einen offeneren Umgang mit Migration ein. Nach dem Brand von Moria erklärte sich Gent bereit, mehr Geflüchtete aufzunehmen als die Nationalregierung vorgesehen hatte. Dieses Vorhaben blockierte die belgische Regierung, woraufhin der Bürgermeister von Gent, Mathias De Clercq, erklärte: „Zusammenarbeit und Solidarität über Grenzen hinweg sind wichtiger denn je, insbesondere für die Schwächsten in unserer globalen Gesellschaft. Das Coronavirus kennt keine Grenzen.”

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Der Stadtreport enthält weitere Informationen über die Migrations- und Integrationspolitik der Stadt sowie ausgewählte lokale Ansätze. Report aus dem Jahr 2021, aktualisiert im Jahr 2023.

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Politischer Kontext - Belgien

Wie ist die Migrationspolitik in Belgien organisiert?

Die belgische Staatsstruktur ist äußerst komplex. Die Einwanderungspolitik wird hauptsächlich auf föderaler Ebene unter der politischen Autorität des Staatssekretariats für Asyl und Migration entwickelt. Der ‘Föderale Öffentliche Dienst für innere Angelegenheiten’ erteilt über das Einwanderungsbüro Visa und Aufenthaltsgenehmigungen. Über Anträge auf internationalen Schutz (Geflüchtetenstatus und subsidiärer Schutzstatus) entscheidet ein:e unabhängige:r Generalkommissar:in für Flüchtlinge und Staatenlose. Die föderale Regierung hat die beschäftigungsbasierte Einwanderungspolitik am 1. Juli 2014 auf die Region der Hauptstadt Brüssel, die Flämische Region (Flandern) und die Wallonische Region (Wallonien) übertragen. Die Zuständigkeit für die Integrationspolitik übernehmen die Flämische, die Französische und die Deutschsprachige Gemeinschaft.

Was ist der historische Hintergrund?

Die eigentlich liberale Ausländerpolitik des 19. Jahrhunderts (Ausländergesetze von 1835 und 1897) wurde mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aufgehoben. Ein Gesetzesdekret über die Fremdenpolizei aus dem Jahr 1939 verschaffte der Exekutive die volle Kontrolle über Ausländer:innen auf belgischem Gebiet. Das Fremdenpolizeigesetz vom 28. März 1952 war das erste umfassende Einwanderungsgesetz in Belgien und diente in erster Linie dazu, den belgischen Staat vor unerwünschten Ausländer:innen zu schützen. Erst in zweiter Instanz gewährte es ‘besonderen Ausländer:innen’ (z. B. ‘Gastarbeiter:innen’) einen gewissen Schutz vor der Willkür der Exekutive. Die Ölkrise beförderte jedoch ab 1974 eine restriktive Haltung gegenüber der Arbeitsmigration. Das aktuelle belgische Einwanderungsrecht beruht auf dem Ausländergesetz vom 15. Dezember 1980 und ist sehr komplex und unzugänglich. Zahlreiche Änderungen in den letzten vierzig Jahren schränken vor allem humanitäre Formen der Einwanderung (Asyl und Familienzusammenführung) und die Verfahrensrechte von Migrant:innen ein.

Was sind die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre?

Migration ist ein wichtiges und zugleich hoch sensibles Thema in der belgischen Politik. So führte z. B. die Billigung des nicht-bindenden ‘Globalen Pakts für eine sichere, geordnete und reguläre Migration’ der Vereinten Nationen Ende 2018 zur Auflösung der nationalen Regierung. Von 2014 bis 2018 verabschiedete die Mitte-Rechts-Koalition zahlreiche Maßnahmen zur Einschränkung der Rechte von Migrant:innen, wobei der Fokus auf Asylbewerber:innen, Familienmigrant:innen und ‘irregulären’ Migrant:innen lag. Die Koalition verringerte unter anderem die Rechtsmittelfristen für inhaftierte Asylbewerber:innen. Zudem verschärfte sie den Kampf gegen ‘Schein’-Beziehungen, indem sie die entsprechende Gesetzgebung durch Regeln zur Scheinvaterschaftsanerkennung ergänzte. Um die Wirksamkeit von Rückführungen zu erhöhen, setzte die Regierung verschiedene Maßnahmen zur Abschiebehaft durch, wie den 2017 verabschiedeten ‘Masterplan’ zur Erhöhung verfügbarer Plätze in geschlossenen Zentren. Darüber hinaus inhaftierte Belgien im August 2018 Familien mit Kindern in neugebauten ’Familieneinheiten’, in einem geschlossenen Zentrum nahe des Brüsseler Flughafens – bis der Staatsrat dieses Vorgehen aussetzte.

Nach den Terroranschlägen von Paris und Brüssel wurden verschiedene Bestimmungen des Ausländergesetzes zum Schutz der öffentlichen Ordnung und der nationale Sicherheit angepasst. So dürfen Personen, die in Belgien geboren oder vor ihrem 12. Lebensjahr nach Belgien gezogen sind, seitdem abgeschoben werden.

Außerdem wurde die Integration zu einer Aufenthaltsbedingung erklärt: Bei fehlenden Nachweisen zur Integration kann die Einwanderungsbehörde bestimmte Aufenthaltsrechte von Migrant:innen aufheben.

Im Unterschied zur vorherigen Legislatur liegt eine der Prioritäten des föderalen Koalitionsvertrags von 2020 auf der Entwicklung eines neuen Migrationsgesetzes, das das undurchsichtige Ausländergesetz von 1980 ersetzen soll. An dem Konsultationsprozess sind auch Interessengruppen und Expert:innen beteiligt. Die neue föderale Regierung erkennt ausdrücklich die Relevanz des ’Globalen Pakts für Migration’ an. Sie erklärt außerdem, von der Inhaftierung Minderjähriger in geschlossenen Zentren abzusehen. Die aktuelle belgische Rückführungspolitik versteht sich als ’menschlich und entschlossen’: Einerseits legt sie neuen Wert auf Information, Orientierung und Beratung für Migrant:innen, andererseits werden erzwungene Rückführungen und mit ihnen die Kapazitäten für die Inhaftierung ausgeweitet. Die Koalitionsvereinbarung der flämischen Regierung von 2019 beabsichtigt zudem eine Verschärfung des Integrationskurses: Neben einer Mindestgebühr von 360 Euro sollen auch die Sprachanforderungen strenger gehandhabt werden.

Was haben progressive Kampagnen erreicht?

Die Zivilgesellschaft intervenierte mittels Kampagnen, Lobbyarbeit und strategischer Prozessführung gegen Maßnahmen, die die Rechte von Migrant:innen einschränken. Dabei hat sich der Weg vor Gericht als erfolgreichste Einflussnahme auf die Migrationspolitik erwiesen, auch wenn nicht allen Klagen stattgegeben wurde. Aber auch die Kampagne ‘Man sperrt kein Kind ein. Punkt’ gegen die Inhaftierung von Kindern fand breite Unterstützung. Auf Druck der Zivilgesellschaft und einiger Städte wurden im August 2020 18 unbegleitete Minderjährige von den griechischen Inseln Lesbos und Samos und im Dezember 2020 nach dem Feuer im Lager Moria weitere 11 unbegleitete Minderjährige aufgenommen. Diese Zahlen entsprechen selbstverständlich nicht dem tatsächlichen Bedarf. Mit einem offenen Brief an die belgischen Bürger:innen auf der Website ‘Wir sind auch Belgien’ (‘We are Belgium too’), der Besetzung einer Kirche und von Universitätsgebäuden sowie aktuell einem Hungerstreik, fordern ‘irreguläre’ Migrant:innen ein milderes Vorgehen bei der Legalisierung.