Über die Stadt

Neapel

Eine solidarische Stadt erfindet ‘common goods’ neu.

Wichtigste Erkenntnisse

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    Die sichtbare politische Position des ehemaligen Bürgermeister De Magistris (2011-2021) trug erheblich zur Vernetzung der ‘Cities of Solidarity’ auf nationaler und internationaler Ebene bei.

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    Die Stadt führte eine in Italien einzigartige innovative Charta für 'common goods’ (städtische Gemeingüter) ein. Die Charta ermöglicht selbstverwaltete kollektive Räume, die städtische Immobilien als Commons betrachten und für soziale Zwecke nutzbar machen.

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    Die ‘I Tavoli’ (Runde Tische) fördern den Dialog zwischen Bürger:innen und Verwaltung. An den runden Tischen kommen unterschiedliche Interessengruppen zu bestimmten politischen Themen zusammen.

Was ist das Besondere an Neapel?

Lokaler Aktivismus und ein dynamischer Bürgermeister: Der lokale Aktivismus, die starke Präsenz von Migrant:innenverbänden und der politische Einsatz des ehemaligen Bürgermeisters De Magistris (2011-2021) machen den wichtigen Knotenpunkt im Mittelmeerraum zu einer solidarischen Stadt.

Wir danken allen Bürgerinnen und Bürgern, die sofort gehandelt haben – innerhalb weniger Stunden hat die ganze Stadt diese soziale und humanitäre Notsituation positiv bewältigt, in einem perfekten Zusammenspiel zwischen Institutionen und Bürger:innen, die gemeinsam den Prozess der Gastfreundschaft, Offenheit, Inklusion und Integration unterstützt haben.

Stellvertretender Bürgermeister für Soziales R. Gaeta im Jahr 2016, nachdem das gerettete Boot Gregoretti mit 466 Migrant:innen, darunter 98 unbegleitete Minderjährige, in Neapel an Land gegangen war.

Wo liegt der Schwerpunkt der lokalen Migrationspolitik?

Die Stadt der Menschenrechte: Sowohl die symbolischen als auch die konkreten Handlungen der De-Magistris-Verwaltung positionierten Neapel auf lokaler, nationaler sowie internationaler Ebene als eine Stadt des Friedens und der Menschenrechte. Dieser Position verlieh Neapel 2018 Nachdruck, nachdem die nationale Regierung während der Amtszeit von Innenminister Salvini eine restriktive und sanktionierende Haltung gegenüber der Seenotrettung eingenommen hatte.

Was sind die größten Erfolge?

Salvini widersprechen, Leben retten: Das öffentliche Eintreten für Solidarität und die Botschaft der solidarischen Stadt zählen zu den größten politischen Erfolgen. Im Juni 2018 erklärte De Magistris: „Neapel ist bereit, auch ohne finanzielle Mittel, Leben zu retten. [...] Wenn ein herzloses Ministerium schwangere Frauen, Kinder, alte Personen, Menschen auf dem Meer sterben lässt, ist der Hafen von Neapel bereit, sie aufzunehmen.”

Was sind die Schlüsselfaktoren?

Wir organisieren uns selbst!: Koalitionen von Freiwilligen, NGOs, sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Vereinen und Sozialdienstleistern kümmern sich um die meisten praktischen Bedürfnisse und Anforderungen bei der Aufnahme von Geflüchteten. Sie arbeiten oft informell und selbstorganisiert. Die Stadtverwaltung tritt als Vermittlerin und Moderatorin der lokalen Akteur:innen und Bündnisse auf.

Politische Arbeit über die lokale Ebene hinaus

Gemeinsam mit anderen italienischen Städten stellte Neapel die feindliche Migrationspolitik der nationalen Regierung unter Salvini in Frage. Als Anerkennung für ihre humanitären Bemühungen wurde Neapel im Januar 2019 in das ‘Netzwerk der solidarischen Kommunen’ (Rete dei Comuni Solidali Re.Co.Sol) aufgenommen.

Kompletten Stadtreport herunterladen

Der Stadtreport enthält weitere Informationen über die Migrations- und Integrationspolitik der Stadt sowie ausgewählte lokale Ansätze. Report aus dem Jahr 2021, aktualisiert im Jahr 2023.

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Politischer Kontext - Italien

Wie ist die Migrationspolitik in Italien organisiert?

Immigration wie auch die Entwicklung einer Migrations- und Asylpolitik stellen in Italien ein vergleichsweise junges Phänomen dar. Im Einklang mit der EU-Migrationspolitik wird die Aufnahme häufig der Grenzkontrolle und dem ‘Kampf gegen irreguläre Migration’ untergeordnet.

Mit dem sogenannten ‘Strömungsdekret’ bestimmt Italien die Anzahl an Personen, die zu Arbeitszwecken eingelassen werden. Allerdings sind die regulären Möglichkeiten zur Migration geschlossen, und die ‘irreguläre’ Migration wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend kriminalisiert.

Die Asylpolitik in Italien hat sich bis zur Einführung des ‘Hotspot-Ansatzes’ im Jahr 2015 schrittweise an die EU-Politik angepasst.

Das Aufnahmesystem wurde 2020 auf Grundlage eines neuen Gesetzes - zumindest theoretisch - wieder zu einem einheitlichen System für Asylbewerber:innen und Personen mit internationalem und besonderem Schutzstatus reformiert. Aber es ist immer noch primär für Personen mit internationalem Schutzstatus und für unbegleitete ausländische Minderjährige vorgesehen. Außerdem verfügen die Gemeinden nicht über genügend Kapazitäten, um den Aufnahmebedarf aller Schutzberechtigten zu decken. Hierfür stellt das Innenministerium über den ‘Nationalen Fonds für Asylpolitik und -dienstleistungen’ finanzielle Mittel für lokale Behörden bereit.

Was ist der historische Hintergrund?

Italien war bis in die 1980er Jahre hauptsächlich ein Auswanderungsland, erst danach stieg die Immigration langsam an. Da einheitliche Gesetze fehlten, wurde die Entwicklung jahrelang über punktuelle Maßnahmen reguliert. 1982 kam es zu einem totalen Stopp der Einreisen zu Arbeitszwecken. Dies hatte eine Dynamik der ‘irregulären’ Einreise zur Folge, die in regelmäßigen Abschnitten von ca. vier Jahren durch Regularisierungen ausgeglichen wurde.

Das Foschi-Gesetz von 1986 führte die volle Gleichberechtigung für ausländische Arbeitnehmer:innen ein, die Einreisebedingungen selbst blieben von dem Gesetz jedoch unberührt. Das Martelli-Gesetz weitete 1990 das Asylrecht aus und schuf durch eine quantitative Regelung legale Einreisemöglichkeiten. Gleichzeitig wurden Maßnahmen zur Kontrolle der Einreise und zur Ausweisung ‘irregulärer’ Migrant:innen erlassen. Die mit dem Turco-Napolitano-Gesetz von 1998 beschlossene Aufenthaltskarte soll Menschen, die sich seit langer Zeit in Italien befinden, absichern. Das Gesetz bevorzugt dabei aber Arbeitskräfte aus Ländern, die bei der Rückführung mitarbeiten. Für die Festnahme und Identifizierung von Einwanderer:innen ohne Papiere wurden temporäre ‘Haft- und Unterstützungszentren’ (CPT) eingerichtet.

Das Bossi-Fini-Gesetz leitete 2002 die sogenannte ‘Flow-Politik’ und damit strenge Zulassungsbedingungen ein: Es verkürzte die Dauer der Aufenthaltsgenehmigungen, ordnete die Abnahme von Fingerabdrücken aller Ausländer:innen an und setzte den Aufenthalt in den CPTs von 30 auf 60 Tage hoch. Zur selben Zeit regularisierte Italien 650.000 Aufenthaltsgenehmigungen und mit der EU-Erweiterung 2007 erleichterte sich der Verbleib von über einer Million neuer EU-Ausländer:innen.

In den Jahren 2008 und 2009 kam es zu einer Verschärfung der Regeln: Neben der Einführung des Straftatbestands der illegalen Einwanderung wurden auch die Integrationsbedingungen strenger.

Die Regierung erweiterte 2017 mithilfe des Minniti-Orlando-Gesetzes die Haftanstalten für Einwanderer:innen mit dem Ziel, die Rate der Abschiebungen zu erhöhen. Darüber hinaus unterzeichnete sie eine neue Vereinbarung über die Zusammenarbeit mit Libyen, um die Migration nach Europa einzudämmen.

Was sind die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre?

Mit der Einführung des ‘Hotspot-Ansatzes’ im Jahr 2015 - ursprünglich dazu gedacht, die freiwillige Umverteilung zwischen den EU-Ländern voranzubringen - wurde Italiens ‘Auswahlsystem’ bei der Ankunft umgestaltet und erfolgte nun auf Grundlage der nationalen Herkunft, wobei deutlich zwischen ‘potenziellen Asylbewerber:innen’ und unerwünschten ‘Wirtschaftsmigrant:innen’ unterschieden wird.

Die Salvini-Dekrete zur Einwanderung und Sicherheit schlossen 2019 Häfen für Seenotrettung-NGOs und stellten Mittel für die Bekämpfung der Beihilfe zur illegalen Einwanderung in Form verdeckter Polizeieinsätze bereit. Der humanitäre Schutz wurde abgeschafft, was die Mehrheit der Personen mit internationalem Schutzstatus betraf. Asylbewerber:innen wurden auf diese Weise von der Registrierung ausgeschlossen – mit erheblichen Auswirkungen auf ihren Zugang zu Dienstleistungen und ihre Aufenthaltsbedingungen. Das Verfassungsgericht hob diese Maßnahme im Jahr 2020 wieder auf.

Während der COVID-19-Pandemie wurden ‘Quarantäne-Schiffe’ für die Isolation von Migrant:innen vor ihrer Einreise eingerichtet. Diese Maßnahme weckte unweigerlich Erinnerungen an die ‘schwimmenden Hotspots’, die sich der damalige Innenminister Alfano 2016 vorgestellt hatte. Mit einem vorläufigen Erlass vom 19. Mai 2020 wurde mittels einer Notfallmaßnahme beschlossen, Asylbewerber:innen in Einrichtungen aufzunehmen, die sonst für Personen mit subsidiärem Schutz und unbegleitete Minderjährige vorgesehen sind.

Was haben progressive Kampagnen erreicht?

Der ‘Bund Evangelischer Kirchen’ und das Projekt ‘Mediterranean Hope’ haben ein Konzept von humanitären Korridoren entwickelt, um gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu helfen.

2015 wurde darüber hinaus die Charta von Palermo mit dem Ziel unterzeichnet, „die Regulierung der Migrationsströme auf eine völlig neue Art und Weise anzugehen, indem sie beispielsweise die Abschaffung der Aufenthaltsgenehmigungen zugunsten einer radikalen Annahme der Staatsbürgerschaft als Instrument für die Einbeziehung und Teilnahme am öffentlichen Leben vorschlägt“. Der Palermo-Prozess unterstützt die Palermo-Charta-Plattform, die Akteure und Aktivist:innen der Seenotrettung aus ganz Europa zusammenbringt.