Moving Cities
Über die Stadt

Mailand

Ein Hotspot der Migration entwickelt langfristige Lösungen.

Wichtigste Erkenntnisse

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    Mailand ist ein Beispiel für die komplexe und vielschichtige Zusammenarbeit von Behörden und Zivilgesellschaft im Bereich der Inklusionspolitik.

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    Inklusive Sozialdienste: Die Stadt richtet ihre Sozialdienste auf die gesamte Bevölkerung aus und restrukturiert sie auf Grundlage von Schutzbedürftigkeit und Inklusion.

Was ist das Besondere an Mailand?

Von Notfallmaßnahmen zu langfristigen Lösungen: Die größte Herausforderung für Mailand war der Übergang von kurzfristig bereitgestellten Hilfeleistungen zu langfristigen Inklusionslösungen. Die Stadt entwickelte eine Strategie, die später als das ‘Mailänder Modell’ bekannt wurde: ein Aufnahmesystem, das deutlich offener und effizienter gestaltet ist als der nationale Durchschnitt. Wegen der soziokulturellen und wirtschaftlichen Ressourcen zieht die Stadt nach wie vor Menschen an. Mailand ist seit langem ein Knotenpunkt der Migrationsbewegungen. Die letzten beiden linksgerichteten Regierungen investierten in eine Reihe von sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen, um die Inklusion von Migrant:innen und Geflüchteten zu unterstützen.

Mailand ist eine Gemeinschaft des Friedens und der Toleranz, die sich bemüht, eine Hauptstadt der Freiheit zu werden, in der die Verantwortung, Migrant:innen aufzunehmen und zu integrieren, oberste Priorität hat.

Giuseppe Sala, Bürgermeister von Mailand

Wo liegt der Schwerpunkt der lokalen Migrationspolitik?

Innovation auf allen Ebenen: In Mailand experimentieren Verwaltung Zivilgesellschaft in vielen Bereichen mit innovativen Ansätzen: bei der Aufnahme von Migrant:innen und Geflüchteten, der Bereitstellung von Dienstleistungen, der gesundheitlichen und sozialen Unterstützung, dem Zugang zu Arbeitsplätzen und der Zusammenarbeit mit der Zentralregierung bei der lokalen Verwaltung von Aufnahmezentren.

Was sind die Schlüsselfaktoren?

Eine linke Verwaltung trifft auf bürgerschaftliches Engagement: Zwei aufeinanderfolgende linke Regierungen und ein engagierter dritter Sektor ermöglichten die Entwicklung des Mailänder Modells: 2011-2016 unter Bürgermeister Giuliano Pisapia und dann ab 2016 unter dem aktuellen Bürgermeister Giuseppe Sala. Die öffentliche Verwaltung in Mailand verpflichtete sich, an inklusiven Strategien zu arbeiten und auf die sich ändernden Anforderungen der in Mailand ankommenden Menschen zu reagieren. Eine enge Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Einrichtungen, lokalen NGOs und Migrant:innenen Communities war wesentlich für die Verbesserung der sozialen Unterstützung und der lokalen Dienstleistungen.

Was sind die größten Erfolge?

Vereinfachter Zugang zum Arbeitsmarkt und zusätzliche Programme für Minderjährige und Familien: Das Zentrum ‘Celav’ (Centro di Mediazione Lavoro) fördert die Eingliederung ausländischer Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt und richtet sich an alle in Mailand ansässigen Arbeitslosen. Besondere Unterstützung erfahren stark benachteiligte Gruppen wie Menschen mit Behinderung und Angehörige ethnischer Minderheiten. Unbegleitete minderjährige Migrant:innen werden in einem eigens auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Zentrum gefördert. Ein spezieller Dienst hilft Familienmitgliedern, die eine Genehmigung zur Familienzusammenführung erhalten haben, bei bürokratische Fragen und unterstützt bereits vereinte Familien vor Ort.

Politische Arbeit über die lokale Ebene hinaus

Auf internationaler Ebene vertritt Mailand das Image einer inklusiven Stadt und profitierte stark vom Austausch mit anderen Kommunen in Europa und weltweit. Die Stadt positionierte sich öffentlich gegen die restriktive Politik des ehemaligen Innenministers Matteo Salvini und schloss sich 2018 der Kampagne ‘Comuni Disobbedienti’ (Widerständige Gemeinden) an. Mailand ist Teil zahlreicher nationaler und internationaler Netzwerke, die sich für eine inklusive Migrationspolitik einsetzen. Auch der EU-Städteagenda für die Inklusion von Migrant:innen und Geflüchteten trat die Stadt im Jahr 2020 bei.

Mitglied folgender Netzwerke

Kompletten Stadtreport herunterladen

Der Stadtreport enthält weitere Informationen über die Migrations- und Integrationspolitik der Stadt sowie ausgewählte lokale Ansätze. Report aus dem Jahr 2021, aktualisiert im Jahr 2023.

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Politischer Kontext - Italien

Wie ist die Migrationspolitik in Italien organisiert?

Immigration wie auch die Entwicklung einer Migrations- und Asylpolitik stellen in Italien ein vergleichsweise junges Phänomen dar. Im Einklang mit der EU-Migrationspolitik wird die Aufnahme häufig der Grenzkontrolle und dem ‘Kampf gegen irreguläre Migration’ untergeordnet.

Mit dem sogenannten ‘Strömungsdekret’ bestimmt Italien die Anzahl an Personen, die zu Arbeitszwecken eingelassen werden. Allerdings sind die regulären Möglichkeiten zur Migration geschlossen, und die ‘irreguläre’ Migration wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend kriminalisiert.

Die Asylpolitik in Italien hat sich bis zur Einführung des ‘Hotspot-Ansatzes’ im Jahr 2015 schrittweise an die EU-Politik angepasst.

Das Aufnahmesystem wurde 2020 auf Grundlage eines neuen Gesetzes - zumindest theoretisch - wieder zu einem einheitlichen System für Asylbewerber:innen und Personen mit internationalem und besonderem Schutzstatus reformiert. Aber es ist immer noch primär für Personen mit internationalem Schutzstatus und für unbegleitete ausländische Minderjährige vorgesehen. Außerdem verfügen die Gemeinden nicht über genügend Kapazitäten, um den Aufnahmebedarf aller Schutzberechtigten zu decken. Hierfür stellt das Innenministerium über den ‘Nationalen Fonds für Asylpolitik und -dienstleistungen’ finanzielle Mittel für lokale Behörden bereit.

Was ist der historische Hintergrund?

Italien war bis in die 1980er Jahre hauptsächlich ein Auswanderungsland, erst danach stieg die Immigration langsam an. Da einheitliche Gesetze fehlten, wurde die Entwicklung jahrelang über punktuelle Maßnahmen reguliert. 1982 kam es zu einem totalen Stopp der Einreisen zu Arbeitszwecken. Dies hatte eine Dynamik der ‘irregulären’ Einreise zur Folge, die in regelmäßigen Abschnitten von ca. vier Jahren durch Regularisierungen ausgeglichen wurde.

Das Foschi-Gesetz von 1986 führte die volle Gleichberechtigung für ausländische Arbeitnehmer:innen ein, die Einreisebedingungen selbst blieben von dem Gesetz jedoch unberührt. Das Martelli-Gesetz weitete 1990 das Asylrecht aus und schuf durch eine quantitative Regelung legale Einreisemöglichkeiten. Gleichzeitig wurden Maßnahmen zur Kontrolle der Einreise und zur Ausweisung ‘irregulärer’ Migrant:innen erlassen. Die mit dem Turco-Napolitano-Gesetz von 1998 beschlossene Aufenthaltskarte soll Menschen, die sich seit langer Zeit in Italien befinden, absichern. Das Gesetz bevorzugt dabei aber Arbeitskräfte aus Ländern, die bei der Rückführung mitarbeiten. Für die Festnahme und Identifizierung von Einwanderer:innen ohne Papiere wurden temporäre ‘Haft- und Unterstützungszentren’ (CPT) eingerichtet.

Das Bossi-Fini-Gesetz leitete 2002 die sogenannte ‘Flow-Politik’ und damit strenge Zulassungsbedingungen ein: Es verkürzte die Dauer der Aufenthaltsgenehmigungen, ordnete die Abnahme von Fingerabdrücken aller Ausländer:innen an und setzte den Aufenthalt in den CPTs von 30 auf 60 Tage hoch. Zur selben Zeit regularisierte Italien 650.000 Aufenthaltsgenehmigungen und mit der EU-Erweiterung 2007 erleichterte sich der Verbleib von über einer Million neuer EU-Ausländer:innen.

In den Jahren 2008 und 2009 kam es zu einer Verschärfung der Regeln: Neben der Einführung des Straftatbestands der illegalen Einwanderung wurden auch die Integrationsbedingungen strenger.

Die Regierung erweiterte 2017 mithilfe des Minniti-Orlando-Gesetzes die Haftanstalten für Einwanderer:innen mit dem Ziel, die Rate der Abschiebungen zu erhöhen. Darüber hinaus unterzeichnete sie eine neue Vereinbarung über die Zusammenarbeit mit Libyen, um die Migration nach Europa einzudämmen.

Was sind die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre?

Mit der Einführung des ‘Hotspot-Ansatzes’ im Jahr 2015 - ursprünglich dazu gedacht, die freiwillige Umverteilung zwischen den EU-Ländern voranzubringen - wurde Italiens ‘Auswahlsystem’ bei der Ankunft umgestaltet und erfolgte nun auf Grundlage der nationalen Herkunft, wobei deutlich zwischen ‘potenziellen Asylbewerber:innen’ und unerwünschten ‘Wirtschaftsmigrant:innen’ unterschieden wird.

Die Salvini-Dekrete zur Einwanderung und Sicherheit schlossen 2019 Häfen für Seenotrettung-NGOs und stellten Mittel für die Bekämpfung der Beihilfe zur illegalen Einwanderung in Form verdeckter Polizeieinsätze bereit. Der humanitäre Schutz wurde abgeschafft, was die Mehrheit der Personen mit internationalem Schutzstatus betraf. Asylbewerber:innen wurden auf diese Weise von der Registrierung ausgeschlossen – mit erheblichen Auswirkungen auf ihren Zugang zu Dienstleistungen und ihre Aufenthaltsbedingungen. Das Verfassungsgericht hob diese Maßnahme im Jahr 2020 wieder auf.

Während der COVID-19-Pandemie wurden ‘Quarantäne-Schiffe’ für die Isolation von Migrant:innen vor ihrer Einreise eingerichtet. Diese Maßnahme weckte unweigerlich Erinnerungen an die ‘schwimmenden Hotspots’, die sich der damalige Innenminister Alfano 2016 vorgestellt hatte. Mit einem vorläufigen Erlass vom 19. Mai 2020 wurde mittels einer Notfallmaßnahme beschlossen, Asylbewerber:innen in Einrichtungen aufzunehmen, die sonst für Personen mit subsidiärem Schutz und unbegleitete Minderjährige vorgesehen sind.

Was haben progressive Kampagnen erreicht?

Der ‘Bund Evangelischer Kirchen’ und das Projekt ‘Mediterranean Hope’ haben ein Konzept von humanitären Korridoren entwickelt, um gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu helfen.

2015 wurde darüber hinaus die Charta von Palermo mit dem Ziel unterzeichnet, „die Regulierung der Migrationsströme auf eine völlig neue Art und Weise anzugehen, indem sie beispielsweise die Abschaffung der Aufenthaltsgenehmigungen zugunsten einer radikalen Annahme der Staatsbürgerschaft als Instrument für die Einbeziehung und Teilnahme am öffentlichen Leben vorschlägt“. Der Palermo-Prozess unterstützt die Palermo-Charta-Plattform, die Akteure und Aktivist:innen der Seenotrettung aus ganz Europa zusammenbringt.