Moving Cities
Über die Stadt

Utrecht

Eine Kombination aus lokaler Innovation und strategischer Lobbyarbeit.

Wichtigste Erkenntnisse

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    Alle migrationspolitischen Maßnahmen der Stadt zielen darauf ab, Geflüchteten einen frühen und vielversprechenden Start zu ermöglichen. Außerdem sind die Maßnahmen auf die individuellen Bedürfnisse und Ambitionen der Geflüchteten zugeschnitten.

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    Mit dem Projekt ‘Plan Einstein’ entwickelte die Stadt Utrecht einen völlig neuen Ansatz für die Aufnahme von Zuwander:innen. Das Programm beruht auf ‘kontextsensitiven Asylzentren’, die inklusiv gestaltet sind und Geflüchteten und anderen Bewohner:innen des Viertels kollektive Räume und Aktivitäten auf der Grundlage von Gleichberechtigung und gemeinsamen Interessen bieten.

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    Utrecht kombiniert erfolgreich lokale Innovationen bei Eingliederungsmaßnahmen für Migrant:innen ohne Aufenthaltserlaubnis mit strategischer Lobbyarbeit auf nationaler Ebene. So stärkt die Stadt ihren Einfluss auf die Migrationspolitik auch über die städtische Ebene hinaus.

Was ist das Besondere an der Stadt?

Langjährige Partnerschaften mit der Zivilgesellschaft: Utrecht führt die Entwicklung von innovativen Inklusionsmaßnahmen für Geflüchtete, Asylbewerber:innen und Migrant:innen ohne Aufenthaltserlaubnis seit Jahren an. Als erste niederländische Stadt unterstützte sie Migrant:innen ohne Aufenthaltserlaubnis neben der sozialen Soforthilfe auch juristisch. Die Stadt pflegt langjährige Partnerschaften mit der Zivilgesellschaft und Solidaritäts-Organisationen. Geschickt verknüpften die lokalen Akteur:innen das Thema Menschenrechte mit lokalen Debatten. Der Fokus auf eine Politik für Asylbewerber:innen und Migrant:innen ohne Aufenthaltserlaubnis unterscheidet Utrecht von anderen niederländischen Städten.

Wo liegt der Schwerpunkt der lokalen Migrationspolitik?

Asylzentren als soziale Nachbarschaftszentren neu erfinden: 2015 entwickelte die Gemeinde ihre eigenen innovativen und alternativen Ansätze zur Aufnahme von Asylbewerber:innen und Geflüchteten. Für dieses Projekt beantragte Utrecht eine EU-UIA-Finanzierung und erhielt europaweit große Anerkennung. Der ‘Plan Einstein’ setzt auf einen kontextsensitiven Ansatz und schlägt eine neue Form von städtischem Gemeinschaftsraum vor, von dem sowohl Geflüchtete als auch Anwohner:innen profitieren. Die Schaffung einer gemeinsamen Umgebung für soziale Aktivitäten erwies sich als wirksame Methode, um die lokale Unterstützung für Asylzentren aufzubauen und zu festigen.

Was sind die größten Erfolge?

Den Status von Migrant:innen ohne Aufenthaltserlaubnis erfolgreich klären: Wissenschaftler:innen und Expert:innen lobten Utrechts Maßnahmen und die über 90%-ige Erfolgsquote bei der Klärung des ‘irregulären’ Status von etwa 900 Personen in den letzten zehn Jahren. Zwischen 2002 und 2019 führte dies in 59% der Fälle zu einem legalen Aufenthalt. Nur 8% wurden in die Illegalität abgeschoben. Diese Erfolgsquote liegt deutlich über dem nationalen Durchschnitt wofür laut politischer Berater:innen die Expertise der lokalen NGOs entscheidend ist.

Politische Arbeit über die lokale Ebene hinaus

Die Stärke des Utrechter ‘Advocacy’-Ansatzes liegt in der strategischen Nutzung verschiedener Formen von Lobbyarbeit und Möglichkeiten, sich gegenüber der Zentralregierung zu positionieren. Den verschiedenen migrationspolitischen Maßnahmen der Stadt liegt ein sorgfältig entwickelter Ansatz zugrunde, der sich in erster Linie auf die Menschenrechte und pragmatische Lösungen stützt. Die politischen Entscheidungsträger:innen in Utrecht betonen, dass die Ansätze zur Inklusion von Asylbewerber:innen und Geflüchteten mit unterschiedlichen politischen Agenden korrespondieren. Utrecht beteiligt sich auch an verschiedenen kommunalen, nationalen und internationalen Netzwerken, die an einer fortschrittlichen Migrationspolitik arbeiten.

Mitglied folgender Netzwerke

Utrecht Fahrrad
©Utrecht municipality

Kompletten Stadtreport herunterladen

Der Stadtreport enthält weitere Informationen über die Migrations- und Integrationspolitik der Stadt sowie ausgewählte lokale Ansätze. Report aus dem Jahr 2021, aktualisiert im Jahr 2023.

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Politischer Kontext - Niederlande

Die niederländische Asyl- und Integrationspolitik für Geflüchtete ist Teil einer komplexen, auf mehreren Ebenen angesiedelten Migrationspolitik. Die Einwanderungspolitik für Asylbewerber:innen und Geflüchtete ist zentralisiert. Bei der Integrationspolitik kam es zu mehreren Wechsel: 2007 wurde sie dezentralisiert, 2013 zentralisiert und ab 2022 soll sie wieder dezentral organisiert werden.

Die restriktive Wende in der niederländischen Asyl- und Migrationspolitik

Im Jahr 2019 machten Asylbewerber:innen knapp 6 Prozent der gesamten Einwanderung in die Niederlande aus. Trotz dieses relativ geringen Anteils sind die Notlage und die Rechte von Geflüchteten und ‘irregulären’ Migranten:innen in den Niederlanden zunehmend Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen nationalen und lokalen Behörden und eine Streitfrage zwischen den politischen Parteien auf nationaler Ebene. Einwanderung, Asyl und Integration stehen im Mittelpunkt eines Wandels von einer multikulturellen Politik hin zu einer restriktiveren nationalen Einwanderungs- und Integrationspolitik. Der Wandel resultiert aus dem wachsenden Rechtspopulismus und geht mit einer einwanderungsfeindlichen Rhetorik von Politiker:innen der extremen Rechten und der Mitte einher.

Im Ausland wird diese Rhetorik oft mit der rechtsextremen Freiheitspartei (PVV) von Geert Wilders in Verbindung gebracht, aber auch die zentristische Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) hat sich ihr verstärkt zugewandt: Laut ihrer Werbekampagnen möchte die Partei z. B. das Asylrecht aussetzen und sich von den Verpflichtungen aus der ‘überholten’ Flüchtlingskonvention lösen. Oppositionsparteien, Geflüchteten- und Menschenrechtsorganisationen betonen, dass dieser Rechtsruck schon vor der Jahrhundertwende begann: Neben der Verschärfung der Gesetzgebung wurde der kostenlose Rechtsbeistands für Asylbewerber:innen eingeschränkt, der Anspruch auf Sozialleistungen und -dienste an einen gültigen Aufenthaltsstatus gebunden und Einwander:innen wurden vermehrt inhaftiert.

Asylpolitik in den Niederlanden: Multi-Level-Governance in Schwierigkeiten

Obwohl die Zahl der Asylanträge zurückgegangen ist, sind Geflüchtete in den niederländischen Aufnahmezentren aufgrund des Mangels an Aufnahmeplätzen mit langwierigen Zeiten der Unsicherheit und restriktiven Bedingungen konfrontiert. Die langen Wartezeiten erschweren darüber hinaus die Inklusion von geflüchteten Personen. Verursacht wurde dieses Problem durch einen Personalmangel bei den Einwanderungsbehörden und einen angespannten Wohnungsmarkt.

‘Bürgerliche Integration’ und integrative Maßnahmen für anerkannte Geflüchtete

Die Niederlande brachten 1996 als eines der ersten Länder eine Politik der bürgerlichen Integration auf den Weg, die seitdem heftige Debatten auslöste und in den Jahren 2007, 2013 und 2020 zu neuen und geänderten Integrationsgesetzen überarbeitet wurde. Wissenschaftler:innen bezeichnen die niederländische Integrationspolitik als besonders restriktiv, da geflüchtete Personen für ihre ‘staatsbürgerliche Integration’ selbst verantwortlich sind. Die obligatorischen Sprach- und Orientierungskurse müssen innerhalb von drei Jahren absolviert werden.

Kommunale Beteiligung an der Inklusion – ein schwieriger Kampf?

Als das Integrationsgesetz von 2013 die bürgerliche Integration zentralisierte, hatten die Kommunen nur begrenzte Möglichkeiten, anerkannte Geflüchtete frühzeitig zu unterstützen. Geflüchtete Personen haben Anspruch auf ein verzinsliches Darlehen des Staates zur Deckung der Kosten der Integrationskurse, das ihnen, sofern sie ihr Integrationsdiplomen rechtzeitig erhalten, zurückerstattet wird. Sie müssen einen zertifizierten Sprachkurs finden, wobei viele Opfer von betrügerischen Schulen wurden. Der Übergang vom Leben in den Aufnahmezentren - mit nur eingeschränktem Zugang zur Arbeit und ohne große Entscheidungsmacht - zu einem selbstständigen Leben nach der Statusanerkennung ist extrem. Kommunale Akteure äußerten immer wieder Kritik an den Unzulänglichkeiten und Widersprüchen der niederländischen Integrationspolitik und am Fehlen eines kommunalen Mandats. Nach jahrelanger kommunaler Lobbyarbeit und verschiedenen kritischen Expertenberichten kündigte die niederländische Regierung eine Überprüfung der nationalen Asylpolitik an. Im Rahmen eines Konsultationsprozesses entwickelte und entwarf das Ministerium ein neues niederländisches Integrationsgesetz, das die bürgerliche Integration dezentralisiert und den Kommunen die Leitung überträgt. Die Umsetzung des neuen Integrationsgesetzes ist nach mehreren Aufschüben für den 1. Januar 2022 geplant.

Unterstützung für ‘irreguläre’ Migranten––Bett, Bad, Brot und mehr?

Untersuchungen in den Niederlanden zeigen, dass einige lokale Behörden nationale Maßnahmen, die ‘irreguläre’ Migrant:innen und abgelehnte Asylbewerber:innen betreffen, ‘abfedern’ oder sich ihnen widersetzen. Nach jahrelangen Unstimmigkeiten zwischen den niederländischen Städten und der Zentralregierung vereinbarte das Ministerium für Justiz und Sicherheit 2018 mit dem niederländischen Gemeindeverband die Entwicklung ‘nationaler Einwanderungseinrichtungen’ (LVVs). Das Ministerium, die Einwanderungs- und Rückführungsbehörden, die VNG und die Gemeinden Amsterdam, Rotterdam, Utrecht, Eindhoven und Groningen arbeiten gemeinsam an der Entwicklung von LVVs. Diese Übereinkunft stellt einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den Städten und der Zentralregierung im Hinblick auf die Unterstützung ‘irregulärer’ Migrant:innen dar. Berichte zeigen jedoch, dass die Pilotkommunen und die Zentralregierung weiterhin unterschiedliche Ansichten und Erwartungen in Bezug auf die Ergebnisse des Pilotprojekts haben. Zusätzliche Spannungen und Konflikte sind daher zu erwarten.